STIFTUNG ARBEITSMARKT

DEUTSCHLANDS ARBEITSMARKT FIT FÜR DIE ZUKUNFT MACHEN

Der akute Fachkräftemangel und der demografische Wandel verlangen entschlossene Reformen, um einen drohenden Zusammenbruch zu verhindern.

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Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué

Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit & Professor für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Kein Zweifel: Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Der Staat soll die Landesverteidigung massiv verbessern, die Infrastruktur rundum erneuern, die Digitalisierung konsequent vorantreiben, die Schulen besser ausstatten. Die Energieversorgung soll sich radikal verändern: von Gas, Kohle und Öl zu Sonne, Wind und Biomasse. Die Industrie soll sich ökologisch transformieren: vom Verbrennungs- zum Elektromotor und von fossilen zu synthetischen Kraftstoffen, vom abfallträchtigen Plastik zu abbaubaren Naturstoffen, von der Einweg- zur Kreislaufökonomie. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr soll endlich attraktiv werden durch einen Ausbau von Schienennetz und Servicedichte. Und natürlich soll die Gesundheitsversorgung erhalten bleiben, und zwar nicht nur in den dicht bevölkerten Ballungszentren, sondern auch in den entlegenen Räumen des Landes.
Das verlangt ein riesiges Programm der Modernisierung. Es ist das Ergebnis von fast zwei Jahrzehnten, den „Merkel-Jahren“, in denen Deutschland von der Substanz lebte – und dies lange noch recht gut. Jetzt aber kommt die Quittung. Seit der frühen Nachkriegszeit vor rund 70 Jahren ist der aufgestaute Gestaltungs- und Reformbedarf für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft niemals größer gewesen. Die zentrale Frage dabei lautet: Wer soll dies alles leisten? Alle reden derzeit von der Knappheit von Gas – und in der Tat ist die Versorgung mit Energie durch Putins Krieg gegen die Ukraine zum überragenden aktuellen Problem geworden. Aber auf mittlere und längere Sicht gibt es einen viel grundlegenderen Engpass: Es fehlt an Arbeitskräften.

DAMOKLESSCHWERT DER DEMOKRATIE

Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, kann dies heute schon erkennen. Überall werden Arbeitsplätze annonciert: Auf Lastwagen liest man „Fahrer gesucht“, Gaststätten werben um Hilfskräfte, Handwerksbetriebe um Azubis, Krankenhäuser und Altenheime um Pflegekräfte, Kindertagesstätten um Kinderbetreuerinnen und Kinderbetreuer. Ganz zu schweigen von der händeringenden Suche der Industrie nach technischem Fachpersonal, das überhaupt erst in der Lage ist, die Digitalisierung in die Praxis umzusetzen. Beunruhigend ist auch der Lehrermangel in den Schulen, der immer mehr zum Normalzustand wird. Nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch in den Städten.

Tatsächlich gibt es in Deutschland nach jüngsten Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) etwa 2 Millionen offene Stellen – bei rund 45 Millionen Erwerbstätigen. Erstmals seit Jahrzehnten hat damit die Zahl der offenen Stellen in etwa die der Arbeitslosen erreicht. Und sie wird diese bald weit übertreffen, denn die deutsche Gesellschaft wird in den kommenden Jahren Schritt für Schritt schrumpfen, was die Zahl der Erwerbspersonen betrifft. Die große Kohorte der Generation der Baby-Boomer – geboren zwischen 1955 und 1970 – scheidet aus dem Arbeitsmarkt aus. Sie wird durch die viel kleinere Generation derjenigen ersetzt, die nach der Jahrtausendwende zur Welt kamen. Die Schrumpfung bewegt sich in der Dimension von etwa fünf bis zehn Millionen Menschen bis 2040 – je nachdem, welche mehr oder weniger realistischen Annahmen man über die Veränderung der Zuwanderung und der Erwerbsbeteiligung macht. Damit geht eine beträchtliche Alterung der verbleibenden Erwerbspersonen einher.

WIR BRAUCHEN EINEN AGILEN ARBEITSMARKT

Was ist heute zu tun, um diesen Gefahren entgegenzuwirken? In der Theorie ist die Antwort einfach: Politik und Wirtschaft müssen alles tun, um die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften dynamisch abzufedern. Es braucht eben einen agilen Arbeitsmarkt, der trotz der neuen Knappheiten die Elastizität der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung aufrechterhält. Dabei können zwei Umstände hilfreich sein: Zum einen wird sich der Prozess der weiteren Verknappung über zwei Jahrzehnte hinziehen, ist also relativ gut vorhersehbar. Es gibt daher die Möglichkeit sich darauf einzustellen. Zum anderen wird es einen ganz natürlichen, marktgetriebenen Trend zu steigenden Reallöhnen und besseren Arbeitsbedingungen geben, bedingt durch den Anreiz für die Wirtschaft, die hoch begehrten Arbeitskräfte zu umwerben, und zwar selbst jene, die keine besonders gute Qualifikation mitbringen. Motivation und Mobilisierung könnten dabei ihre Wirkung entfalten: durch Einsatz neuer digitaler Technologien, Angebote der Weiterbildung und Modernisierung des Arbeitsumfelds.

DIE ARBEITNEHMER SIND IM VORTEIL

Für die Erwerbstätigen selbst birgt dies riesige Chancen: Sie werden am Markt so begehrt sein, dass sich, ganz anders als in den zurückliegenden Jahrzehnten, ihre Verhandlungsposition maßgeblich verbessert. Das langjährige Übergewicht von Kapital- gegenüber Arbeitnehmerinteressen wird sich umdrehen: Arbeitnehmer, aber auch Gewerkschaften werden ihre Vorstellungen von einer neuen Work-Life-Balance durchsetzen können. Dies allerdings wohl stärker in Richtung „Work“ als „Life“, weil die Arbeitgeber ihre Angebote so gestalten werden, dass für die Arbeitnehmer ein großer Anreiz zur Mehrarbeit besteht.
Für Staat und Wirtschaft wird die Lage natürlich schwieriger. Dort ist ein komplett neues Mindset nötig. Vorbei ist die Zeit eines überheblichen Selbstbewusstseins der Auftraggeber, in der für jedes Projekt die benötigten Arbeitskräfte in ausreichender Zahl und Qualität mehr oder weniger automatisch bereitstanden. Es bedarf deshalb überall einer klugen Planung und Priorisierung. Dies trifft vor allem den öffentlichen Bereich, der schon heute mit gesellschaftlich bedeutsamen Aufgaben überfrachtet ist. Politisch gilt es fortan, nicht nur vollmundig ambitionierte Ziele und Termine der Transformation auszurufen, sondern eben auch den Weg dahin realistisch aufzuzeichnen, mit Blick auf die Motivation und Mobilisierung der Menschen, die zum Einsatz kommen.

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